Amerika gibt es nicht

I
Herr K. und der Beweis

Zu sagen, dass es Amerika geben würde, das wäre ungefähr so, wie wenn einer behaupten wollte, die Erde wäre eine Kugel.

„Manche Irrtümer und Vorurteile halten sich ziemlich lange,“ sagte Herr K., „jedes Kind kann beispielsweise in den Geschichten von Peter Bichsel leicht nachlesen, dass es Amerika nicht gibt; trotzdem halten sich immer noch viele für Amerikaner.“

„Nein,“ sagten die Leute, „Amerika kann es natürlich nicht geben. Manche Dinge sind einfach völlig unmöglich. Damit muss man leben. Sonst käme alles aus dem Lot.“
„Aber wir haben Bücher über Amerika gelesen,“ behaupteten einige.
Die Leute fingen zu lachen an, und sagten: „Bücher, Bücher! Papier ist geduldig!“
„Aber die Autoren wußten über Amerika sehr gut Bescheid,“ entgegneten die anderen, „sie haben das Land und die Leute ganz genau beschrieben.“
„Berge und Flüsse gibt es überall,“ sagten die Leute, „die Küste und das Meer, Städte und das Land, Pflanzen und Tiere, gibt es überall. Wenn ein Schriftsteller ein Land beschreibt, das ist doch kein Beweis, dass es dieses Land auch tatsächlich gibt.“

II
Herr K. und das Sauerwasser

In einem Land, weit im Osten Asiens, gab es in einer Stadt eine Mineralwasserquelle. Das Wasser aus dieser Quelle konnte getrunken werden, es schmeckte angenehm, und es wurden ihm heilende Kräfte zugeschrieben. So viel stand davon zur Verfügung, dass man ein Schwimmbad damit füllen und darin baden konnte.

Schon in der Zeit, als dort noch das Fahrrad das vorherrschende Verkehrsmittel war, hatte man damit begonnen, tiefe Tunnels zu graben. Später verschwanden viele Bäume aus dem Stadtbild, und die Fahrräder verloren sich in dem Gewirr eines wachsenden Autoverkehrs. Die schönen alten Hofhäuser wurden durch moderne Hochhäuser ersetzt, und der Fortschritt bahnte sich unaufhaltsam seinen Weg. Die meisten Leute waren darüber nicht unglücklich. Nur dass das Mineralwasser verschwunden war, fanden einige Leute, die sich an die früheren Zeiten noch erinnern konnten, ein bisschen schade.

„Gut, dass so etwas bei uns nicht passieren kann,“ sagte Herr K., „das ist zum Glück völlig unmöglich, denn eines ist sicher, die Rente.“ – „Oh, äh, Verzeihung, ich meinte natürlich das Mineralwasser.“

III
Herr K. und der Einsturz

„Das berühmte Archiv der Stadt Köln ist bei einem Unfall wie ein Kartenhaus zusammengestürzt, viele wertvolle Dokumente sind dabei verloren gegangen, und leider waren auch Todesopfer zu beklagen,“ berichtete Herr K.
„Das ist ja schrecklich,“ sagten die Leute, und sie fragten sich, „wie konnte das denn geschehen?“
„Nun,“ antwortete Herr K., „eines der großen Bau-Unternehmen hatte leider gegen die Vorschriften verstoßen und viel zu viel Grundwasser abgepumpt.“

„Das geht natürlich nicht!“ sagten die Leute.
„Wenn aber nun in unserer Stadt eine große Baustelle eingerichtet wird,“ fragten sie, „kann es da nicht auch zu solchen Unfällen kommen?“
„Aber nein,“ sagte Herr K. „das ist ganz und gar unmöglich! Da müssen Sie sich nun wirklich keine Sorgen machen! Um einen Unfall zu verursachen, müsste ja wiederum eine Baufirma gegen Vorschriften verstoßen; und das geht bei uns schon deshalb nicht, weil hier bei uns überhaupt keine einschlägigen Vorschriften vorliegen.“

IV
Herr K. löst das Brandschutzproblem

Als ein Feuer in einer chinesischen Stadt viele wertvolle alte Häuser zerstört hatte, machten sich viele Leute Gedanken darüber, wie solche Katastrophen in Zukunft vermieden werden könnten.
„Wir müssen uns auf solche Gefahren vorbereiten,“ sagten sie, „wir müssen die Zufahrtsstraßen für die Feuerwehren ausbauen und Fluchtwege für die betroffenen Menschen schaffen.“

„Das ist der falsche Weg!“ sagte Herr K., „denn zu dem Großbrand ist es gekommen, weil die Feuerwehr zu spät eingetroffen ist. Dies hätte leicht vermieden werden können! Deshalb müssen wir in Zukunft die Feuerwehrzufahrten versperren und dafür sorgen, dass die Feuerwehrautos überhaupt nicht mehr zu dem Brandort durchkommen können. Nur so können wir sicherstellen, dass sie dort nicht verspätet eintreffen werden.“

V
Herr K. reist nach Energetien

Als das Flugzeug mitten in der Nacht auf dem Flughafen von Energetia, der Hauptstadt von Energetien, landete, fiel Herrn K. vor allem auf, dass alles in ein blendend weißes Licht getaucht war. Und als er genauer hinschaute, entdeckte er überall hell beleuchtete Tafeln mit Inschriften wie SAVE ENERGY oder ENERGIE SPAREN oder auch DIE ENERGIEWENDE VORANTREIBEN.
Die Stewardessen verabschiedeten die Passagiere beim Aussteigen mit einem freundlichen „Haben Sie eine sparsamen Tag!“ oder „Die Energiewende nicht vergessen!“ und sie lächelten jedem der Fluggäste freundlich zu.

In der Abfertigungshalle wartete schon das Empfangskomitee, das ihn sehr freundlich begrüßte, ehe er mit einem schicken großen Wagen in das Hotel gebracht wurde. Das Fahrzeug war sehr geräumig und sehr bequem, nur ein bisschen zu kühl, wahrscheinlich hatte der Fahrer die Klimaanlage etwas zu weit aufgedreht.

Etwas überrascht war Herr K. indessen, dass er auf dem Weg zum Hotel viele Baustellen sah, und es überraschte ihn vor allem, dass viele der riesigen neuen Gebäude wie große Kraftwerke aussahen. Und wohin er auch blickte, sah er ein großes Gewirr von großen und hohen Hochspannungsleitungen.

Schon kurz nach der Ankunft im Hotel wurde Herr K. zu einer Stadtrundfahrt eingeladen, auf dem ihm die interessante Geschichte der Stadt und des Landes erklärt wurde, welche die Geschichte eines unaufhörlichen und rasch fortschreitenden Fortschritts war. Da er wiederholt dazu aufgefordert wurde, alle Fragen zu stellen, die er gerne fragen möchte, fragte er, ob er denn richtig vermutet habe, dass in der schönen Stadt Energetia viele große neue Kraftwerke gebaut werden würden. Über diese Frage freuten sich seine Begleiter offensichtlich sehr, und sie erklärten ihm, dass die neuen Kraftwerke viel effizienter seien, als die veralteten kleinen Kraftwerke, und dass der Bau dieser neuen Großkraftwerke einen großen Schritt nach vorn auf dem Weg zur Energiewende bedeuten würde.

Da müsse er nochmals nachfragen, sagte Herr K., er habe gedacht, dass eine Energiewende dazu führen müsse, dass weniger Kraftwerke benötigt werden würden.
Als sie diese Frage hörten, fingen seine Gastgeber belustigt zu lachen an. Nur ein eingefleischter Württemberger könne eine solche Frage stellen, spotteten sie. Nein, nein, die Energiewende bedeute ja gerade, dass man viel mehr Kraftwerke bauen könne. Denn diese seien ja, wie sie bereits erklärt hätten, viel effektiver als die alten Kraftwerke. Mit jedem der neu gebauten Kraftwerke könne man also mehr Energie einsparen, und je mehr Kraftwerke gebaut werden würden, desto mehr Energie werde folglich eingespart.

Ob er nicht bemerkt hätte, fragten sie, dass der Flughafen mitten in der Nacht in gleißendes Licht getaucht sei? Ob er nicht bemerkt hätte, dass alle Räume höchst komfortable klimatisiert seien? Nein, sie würden so viel Energie einsparen, dass sie sich diesen Luxus leicht leisten könnten. Und in einigen Jahren würden die Züge sogar unterirdisch fahren. Das Fahren in den Tunnels würde zwar, wegen dem in der Röhre erhöhten Luftwiderstand, etwas mehr Energie verbrauchen, sagten sie stolz, aber die Energiesparwende würde eben unumkehrbar einen unaufhörlichen Fortschritt mit sich bringen.

Da Herr K. etwas fröstelte, fragte er, ob es vielleicht möglich wäre, die Klimaanlage auf eine etwas niedrigere Leistungsstufe einzustellen.

VI
Herr K. und die unglaubliche Geschichte

Als Lehrer war Herr K. bei seinen Schülern sehr beliebt, weil er so lustige Geschichten erzählen konnte. Wenn er in das Klassenzimmer kam, schauten die Schüler erwartungsvoll auf und warteten interessiert und gespannt auf den Unterricht.

„Heute will ich Euch von meiner Reise nach Demokratien erzählen,“ sagte Herr K. und die Kinder riefen: „Au fein“ und „Oh, wie schön.“
„Ihr werdet es vielleicht nicht glauben,“ begann Herr K. seine Erzählung, „aber in diesem fernen Land gibt es Radios und all diese Dinge zum Musikhören, die ihr kennt, und trotzdem treffen sich die Leute manchmal und musizieren miteinander, ganz ohne elektrische und elektronische Geräte.“
„Das kann doch gar nicht sein,“ sagten die Kinder und lachten.

„Doch, doch,“ sagte Herr K., „und sogar die Kinder singen manchmal miteinander. Wenn sich dort Kinder treffen, dann lassen sie oft ihre Computer zuhause und spielen einfach so gemeinsam auf der Straße.“
„Das glauben wir nicht!“ sagten die Schüler.

„Das kann ich gut verstehen,“ antwortete Herr K., „aber in diesem fremden Land ist manches anders, als ihr es von zuhause kennt. Ich möchte Euch ein Beispiel geben: Die Zeitungen sind dort nicht nur für Werbeanzeigen da, und die Fernsehsendungen werden nicht von Werbeblocks unterbrochen. Es gibt dort sogar Leute, die es zu ihrem Beruf gemacht haben, über wichtige Ereignisse und über wichtige Erkenntnisse möglichst wahrheitsgemäß zu berichten.“
„Das kann doch nicht sein!“ riefen die Schüler. Und einer der nicht richtig aufgepasst hatte, fragte: „Wo? Wo soll es das geben?“

Herr K. sagte: „Es gibt dort noch mehr Merkwürdigkeiten. In diesem Land gibt es Richter, die nicht bestechlich sind, und Politiker, die sich manchmal bemühen, die Wahrheit zu sagen.“
Solche und ähnliche verrückte Dinge erzählte Herr K., und die Schüler hörten aufmerksam und belustigt zu.

Als die Eltern ihre Kinder von der Schule abholten, berichteten die Kinder ganz begeistert, dass es heute in der Klasse wieder sehr lustig gewesen sei:
„Er hat wieder Quatschgeschichten erzählt,“ lachten sie, „lauter Dinge die beim besten Willen überhaupt nicht wahr sein können.“

VII
Herr K. und der Beweis, (02)

„Die Bauindustrie hat sehr große Fortschritte gemacht,“ sagte Herr K., „es ist unglaublich, wie sehr sich beispielsweise der Bau von Eisenbahntunnels beschleunigt hat.“
„Das ist aber interessant,“ sagten die Leute, „obwohl es den Anschein hat, dass sich in unserer Stadt bei dem Bau von Tunnels ständig Verzögerungen ergeben.“
„Das stimmt nicht,“ sagte Herr K., „bei uns werden die Tunnels in der Hälfte der ursprünglich geplanten Bauzeit gebaut.“
„Wie soll das gehen?“ fragten die Leute, „von dem großen Projekt, das derzeit durchgeführt wird, sind doch bisher überhaupt keine Tunnels fertiggestellt worden.“
„Nein, nein,“ sagte Herr K., „natürlich sind noch keine Tunnels fertiggestellt worden. Mit dem Bau der Tunnels ist ja noch gar nicht begonnen worden. Mehr als die Hälfte der Bauzeit ist aber bereits vorbei. Das ist der Beweis – und es ist ein ganz klarer Beweis – dass die Tunnels in weniger als der Hälfte der Bauzeit fertig gestellt worden sein werden.“